Die Kunst als Zelt
Das Martyrium der Gruppe Rudolf Berlin

BERLIN. Es ist der 24. Dezember, Heiligabend, die Menschen sind bei ihren Lieben, verbringen Zeit mit der Familie und kommen nach den stressigen Vorbereitungen erst jetzt richtig in Weihnachtsstimmung. Die Wohnungen sind warm und hell beleuchtet, der Baum reich geschmückt und die Geschenke lassen nicht nur Kinderaugen erwartungsvoll glänzen.
Doch von dieser heimeligen Atmosphäre lässt sich eine Gruppe von Berliner Künstlern nicht beeindrucken. Es sind minus zwölf Grad, der matschige graubraune Schnee ist zu einer festen Schicht gefroren die alles bedeckt, auch den Rudolfplatz in Friedrichshain. Der unscheinbare Platz im Herzen des sog. Rudolf-Kiez bietet nicht einmal im Sommer Grund für überschwängliche Emotionen, im Winter, noch dazu an Heiligabend, ist es ein trostloser, dunkler Ort, umsäumt von einer Kirche und einem Sportplatz. Genau dorthin begibt sich am frühen Abend die Gruppe Rudolf Berlin, benannt nach eben diesem Platz wollen sie ihrem Namenspatron an dem Abend der Abende Gesellschaft leisten. Ausgerüstet mit nichts mehr als ihren Bildern: Von untalentierten Taugenichtsen, die nichts Besseres zu tun hatten, als sich in den letzten Wochen an jedem Mittwochabend zum gemeinsamen Malen in einer benachbarten Privatwohnung zu treffen, mühevoll bemalte Leinwände. Die dabei entstandenen „Kunstwerke“ sind in ihrem künstlerischen Wert mehr als fragwürdig. Doch das Motto der Gruppe entschuldigte es ahnungsvoll schon im Voraus: „Nur die Idee zählt“.
Die Idee als Ausgangspunkt jeder Kunst ist zugegebenermaßen wesentlich, doch auch sie scheint den Weg auf jene Leinwände nicht gefunden zu haben. An diesem Abend sollte es aber niemanden stören, denn am Rudolfplatz war außer der Gruppe Rudolf niemand und so waren die Machwerke in eisigen Temperaturen und extrem schlechten Sichtverhältnissen auch im öffentlichen Raum zu ertragen. Mehr als zwanzig Leinwände in verschiedenen Größen wurden an diesem Abend miteinander verbunden und aus dem neu entstandenen Großbild eine zeitweilige Behausung gezimmert.
Mit Hilfe von Schnur und einigen Holzpflöcken haben sich die Akteure der Gruppe Rudolf ein Dach über dem Kopf gebastelt, das ihnen nun 2005 Jahre nach der Geburt des Heilands ebenfalls eine spärliche Bleibe für die Nacht bieten sollte. Ein Zelt entstand, gemacht aus den seelischen Ausgüssen der Beteiligten, die sie mit Hilfe von teurer Acrylfarbe auf Leinwand bannten. Als Proviant haben sie nur einen großzügigen Vorrat an Jägermeister Extrasize-Flaschen aus dem Weihnachtsangebot des benachbarten Supermarkts mitgenommen. Nach den ersten Flaschen vergaßen sie den Hunger, die Einsamkeit und nicht zuletzt die beißende Kälte. Sie soffen sich so, unter ihren Bildern sitzend, langsam in den Tod. Da auch niemand vorbeikam, denn an diesem Tag durften die Hunde in der Wohnung kacken und mussten dazu nicht auf den Rudolfplatz geführt werden, kam keine Hilfe. Man fand die vereisten Körper erst nach zwei Tagen, mit zersplitterten Jägermeisterflaschen in der Hand unter dem zusammengestürzten Zelt, das erst später als 24 bemalte Leinwände von fragwürdigem künstlerischem Inhalt identifiziert wurde.
Was trieb diese jungen Menschen zu dieser wahnsinnigen Tat? War es der Versuch den Geist endgültig über den Körper siegen zu lassen, wollten sie das Letzte was ihnen noch blieb, ihre Kunst also, der brutalen Außenwelt als Schutzschild entgegenhalten oder war es einfach pure Dummheit? Wir werden es nie erfahren, denn keiner von ihnen überlebte den Vorfall. Doch die Bilder konnten gerettet werden und wurden dem Künstlerkomitee „Rudolf“ übergeben, das zufälligerweise in direkter Nachbarschaft ein sehr ähnliches Unterfangen verfolgte. Sofort hat das Komitee den Namen geändert und heißt nun zur Ehren der Verstorbenen ebenfalls Gruppe Rudolf Berlin. (dpa)

Die geretteten Werke können ab dem 6. Januar 2006 in der Galerie ZERO, Köpenicker Strasse 4, 10997 Berlin (direkt am U-Bahnhof Schlesisches Tor) besichtigt werden. Die Eröffnung der Ausstellung ist um 20 Uhr
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